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09.09.2025

Freizügigkeit: Muss nicht in Anspruch genommen werden

Die Unionsbürgerschaft beinhaltet das Recht, die Freizügigkeit nicht in Anspruch zu nehmen. Das stellt Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) Tamara Ćapeta klar. Sie fährt unter Verweis auf das Recht auf Familienleben fort, die Unionsbürgerschaft eines unterhaltsberechtigten Minderjährigen könne für den drittstaatsangehörigen Elternteil unabhängig von dessen Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat zu einem abgeleiteten Aufenthaltsrecht führen.

M ist Drittstaatsangehörige und Mutter eines minderjährigen Kindes, das die Staatsangehörigkeit der Niederlande besitzt und immer dort gelebt hat. Ms Ehegatte besitzt sowohl die Staatsangehörigkeit der Niederlande als auch die eines Drittstaats. Die Familie wohnt in den Niederlanden. Ms Sohn hat einen Rückstand in der Sprech- und Sprachentwicklung und erhält deswegen besondere schulische Betreuung, während Ms Ehegatte gesundheitliche Probleme hat und Sozialleistungen erhält.

Von 1999 bis 2014 wohnte M in Spanien und besitzt noch immer einen gültigen Aufenthaltstitel für diesen Mitgliedstaat. Obwohl sie seit 2014 in den Niederlanden lebt, verfügt sie dort über keinen Aufenthaltstitel. 2020 beantragte sie auf Grundlage der Unionsbürgerschaft ihres Sohnes nach Artikel 20 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) die Ausstellung eines EU-/EWR-Dokuments zur Bescheinigung ihres abgeleiteten Aufenthaltsrechts in den Niederlanden.

Die niederländischen Behörden lehnten die Ausstellung einer solchen Bescheinigung ab und forderten M auf, unverzüglich nach Spanien zurückzukehren. Artikel 20 AEUV sei nicht anwendbar, da das unterhaltsberechtigte Kind von M, das die Unionsbürgerschaft besitze, nicht verpflichtet werde, das Hoheitsgebiet der EU als Ganzes zu verlassen, sondern stattdessen zu seiner Mutter nach Spanien ziehen könne, wo diese ein Aufenthaltsrecht besitze.

M brachte die Sache vor das Bezirksgericht Den Haag, das sich mit Vorlagefragen an den EuGH gewandt hat. Die dortige Generalanwältin Tamara Ćapeta greift in ihren Schlussanträgen das EuGH-Urteil Ruiz Zambrano vom 08.03.2011 (C-34/09) auf, wonach Unionsbürger, die – wie Ms Sohn – die Freizügigkeit nie in Anspruch genommen und immer in dem Mitgliedstaat gelebt hätten, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, aber nie in einem anderen EU-Mitgliedstaat gewohnt haben, gleichwohl durch Artikel 20 AEUV geschützt sind.

Ćapeta führt aus, dass die aus der Unionsbürgerschaft erwachsenden Rechte auch das Recht beinhalteten, sich zu entscheiden, nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu ziehen. Wenn ein Kind, das die Unionsbürgerschaft besitze, gezwungen würde, das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats zu verlassen, in dem es lebe, um seinen Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit zu begleiten, der diesen Mitgliedstaat verlassen müsse, gewähre Artikel 20 AEUV daher diesem Elternteil ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht in demjenigen Staat, dessen Staatsangehörigkeit das Kind besitze, sodass das Recht dieses Kindes, die Freizügigkeit nicht in Anspruch zu nehmen, geschützt werde.

Das gilt der Generalanwältin zufolge auch dann, wenn ein Kind, das die Unionsbürgerschaft besitzt, nicht die EU als Ganzes verlassen müsste, sondern lediglich das Hoheitsgebiet seines eigenen Staates.

Vor einer Entscheidung über die Ausweisung eines Elternteils mit Drittstaatsangehörigkeit müssten die zuständigen Behörden prüfen, ob das Kind in der Weise von seinem Elternteil abhänge, dass es gezwungen wäre, diesen zu begleiten, wenn diesem ein Aufenthaltsrecht in dem Mitgliedstaat verweigert würde, dessen Staatsangehörigkeit das unterhaltsberechtigte Kind besitze. Im Rahmen dieser Beurteilung hätten die Behörden das Kindeswohl und das durch die Charta der Grundrechte der EU geschützte Recht auf Familienleben zu berücksichtigen.

Generalanwältin beim Gerichtshof der Europäischen Union, Schlussanträge vom 04.09.2025, C-147/24