20.10.2025
Nach den Plänen der schwarz-roten Koalition sollen Überstundenzuschläge künftig unter bestimmten Bedingungen steuerfrei bleiben. Die Hans-Böckler-Stiftung hat untersucht, wie viele Menschen davon profitieren würden und wie hoch die Steuerersparnis ausfällt. Das Ergebnis: Nach der Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Stiftung werden nur 1,4 Prozent aller Beschäftigten künftig von einem Steuerbonus profitieren, der Rest geht leer aus.
Im Durchschnitt aller Beschäftigten in Deutschland blieben nur 0,87 Euro pro Monat steuerfrei, die mittlere Steuerersparnis falle mit monatlich 0,31 Euro noch einmal dürftiger aus. Gleichzeitig entfalle die Entlastung ganz überwiegend auf Beschäftigte aus der oberen Hälfte der Entgeltverteilung.
Die Berechnungen des WSI beruhen nach Angaben der Hans-Böckler-Stiftung auf der Verdiensterhebung des Statistischen Bundesamtes vom April 2024, die detaillierte Gehaltsdaten von rund 9,6 Millionen Beschäftigten enthalte.
"In den Betrieben haben sich Arbeitszeitkonten durchgesetzt und Mehrarbeit kann später durch Freizeit ausgeglichen werden", so Studienautor Malte Lübker. Nach den Ergebnissen der Arbeitszeitrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verfalle zudem die Mehrheit der Überstunden im engeren Sinne. "Bezahlte Überstunden sind inzwischen eher ein Randphänomen", so Lübker. Laut Verdiensterhebung hätten im April 2024 nur 5,1 Prozent der Beschäftigten Überstunden ausbezahlt bekommen, darunter seien 1,8 Prozent mit einem Überstundenzuschlag gewesen.
Nach den Koalitionsplänen sollen Überstunden jedoch nur berücksichtigt werden, wenn diese über die normale Vollzeit hinausgehen, sodass sich mit 1,4 Prozent ein noch kleinerer Kreis von Begünstigten abzeichne. Beschäftigte in Teilzeit erreichten die Vollzeitschwelle auch inklusive Überstunden nur in Ausnahmefällen, sodass von ihnen nur 0,2 Prozent einen Steuervorteil erwarten könnten. Geringfügig Beschäftigte gehen laut Studie leer aus. Deutlich häufiger profitierten Vollzeitbeschäftigte (2,4 Prozent). Für Beschäftigte mit Tarifvertrag (1,7 Prozent) seien die Aussichten auf einen Steuerbonus etwas besser, als wenn der Tarifvertrag fehlt (1,1 Prozent).
Da Frauen in Deutschland häufiger in Teilzeit arbeiten als Männer, würden unter ihnen nur 0,5 Prozent von der Steuerbefreiung profitieren. Bei Männern ergebe sich ein höherer Anteil von 2,2 Prozent. Deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigten sich der Studie zufolge auch bei der Höhe der freigestellten Beträge: Während Männer künftig pro Monat durchschnittlich 1,46 Euro steuerfrei mit nach Hause nehmen würden, seien es bei Frauen nur 0,23 Euro pro Monat. Dies liegt der Studie zufolge nur zum Teil daran, dass Frauen aufgrund der ungleichen Verteilung der Sorgearbeit weniger Überstunden machen als Männer. Entscheidend sei vielmehr, dass bei Frauen aufgrund des Vollzeit-Erfordernisses nur rund die Hälfte (54 Prozent) der Überstunden mit Zuschlag unter das neue Steuerprivileg fallen würde. Bei Männern seien es neun von zehn Überstunden mit Zuschlag (88 Prozent). Lübker sieht darin einen Beleg für die mittelbare Diskriminierung von Frauen.
Auch wenn die individuelle Entlastung insgesamt sehr klein sei, habe das Koalitionsvorhaben zudem problematische Auswirkungen auf die Einkommensverteilung. Rund 95 Prozent des Entlastungsvolumens käme Beschäftigten aus der oberen Hälfte der Entgeltverteilung zugute, während auf die untere Hälfte nur fünf Prozent der Gesamtsumme entfallen. Für Arbeitnehmer mit einem Bruttomonatsverdienst von bis zu 3.041 Euro betrage die durchschnittliche Steuerersparnis gerade einmal drei Cent pro Monat, für das Zehntel mit den höchsten Gehältern hingegen 1,18 Euro. "Die neue Studie zeigt, wie sozial unausgewogen das Vorhaben ist", sagt Bettina Kohlrausch, Wissenschaftliche Direktorin des WSI. "Statt eine breite Entlastung zu bewirken, würde von dem Steuerprivileg in erster Linie eine kleine Gruppe von Beschäftigten profitieren, die auch so ein auskömmliches Gehalt haben. Das trägt weiter zur Ungleichheit in der Gesellschaft bei und setzt ein falsches Signal."
Das Vorhaben, das auf das Wahlprogramm der CDU/CSU zurückgeht, war laut Hans-Böckler-Stiftung zuletzt auch vom Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesfinanzministerium scharf kritisiert worden. Die Ökonomen hatten argumentiert, dass die neue Regelung das Steuerrecht noch komplexer mache und erhebliche Bürokratiekosten bei Arbeitgebern und in der Finanzverwaltung verursachen würde. Außerdem bezweifelten sie laut Stiftung, dass die Steuerersparnis aufgrund ihrer geringen Höhe einen wirksamen Anreiz für Mehrarbeit setzt. Der Beirat sei dabei unter großzügigen Annahmen von einer Steuerersparnis von 3,50 Euro pro Überstunde ausgegangen. Die neue WSI-Analyse zeige, dass der Steuerbonus in der Realität mit 1,35 Euro pro Überstunde deutlich geringer ausfallen dürfte. Für Beschäftigte mit einem Bruttoverdienst von bis zu 3.041 Euro belaufe sich das durchschnittliche Plus beim Netto-Gehalt sogar nur auf 0,39 Euro pro steuerbegünstigter Überstunde mit Zuschlag. Als Grund nennt die Studie unter anderem, dass für Beschäftigte mit geringerem Einkommen auch der Steuersatz geringer ist und Überstundenzuschläge geringer ausfallen als bei Beschäftigten mit höherem Einkommen.
Handlungsbedarf besteht laut der neuen WSI-Studie in anderen Bereichen. So verfalle derzeit nach der IAB-Arbeitszeitrechnung mehr als die Hälfte aller geleisteten Überstunden ohne Bezahlung und ohne Freizeitausgleich. Um dies zu verhindern, sollten laut Studie verbleibende Lücken in der Arbeitszeiterfassung geschlossen werden. Zudem gebe es bei einigen Arbeitgebern – beispielsweise im Polizeidienst des Landes Nordrhein-Westfalen – die fragwürdige Praxis, auch bereits erfasste Überstunden unter bestimmten Bedingungen wieder aus den Arbeitszeitkonten zu löschen.
Trotzdem habe sich auf den Arbeitszeitkonten in Deutschland inzwischen ein Berg von fast 500 Millionen bereits geleisteter Stunden im Wert von rund 9,5 Milliarden Euro angesammelt. "Wenn Beschäftigte in Bereichen mit besonders hoher Arbeitsbelastung keine realistische Perspektive auf Freizeitausgleich haben, kann es sinnvoll sein, die Zeitguthaben auszuzahlen", so Lübker. "Ob ein etwaiger Überstundenzuschlag dabei steuerfrei bleibt oder nicht, ist für die Beschäftigten eher zweitrangig."
Hans Böckler Stiftung, PM vom 17.10.2025